Im Leo sein

Auf den Baum, den Brunnen, die Hauswand zulaufen, mit der Hand die vorher ausgemachte Stelle berühren und „Leo“ rufen. Kurz aus dem Spiel, in Sicherheit sein.

Leo bedeutet in Österreich einen Zufluchtsort beim Fangen spielen, wo man nicht abgeschlagen werden kann. Ich erinnere mich auch an solche Felder beim „Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel“. Hatte man dort seine Figur stehen, durfte sie nicht „geschmissen“ werden. Wer allerdings seine Figuren zu lange auf diesen Feldern gelassen hat, ist auch nicht wirklich weitergekommen.

Das Ganze soll auf den Babenbergerherzog Leopold VI. und einen Asylring am Wiener Stephansdom zurückgehen. Sprachwissenschaftlich verwandt ist das Leo mit dem mittelhochdeutschen hleo in der Bedeutung von Schutz, Decke. Wiederum abgeleitet von hlewa, schützender Ort. Leos sind Räume der Zuflucht, des Entkommens aus einer Realität, Gegenräume sozusagen. Sie schaffen allerdings auch Illusionen.

Für mich fühlt sich dieser Sommer wie ein großes Leo an. Das Virus macht natürlich keine Pause, aber die Schulen und Universitäten. In vielen Betrieben ist nach der Kurzarbeit wieder „normale“ Arbeitszeit, allerdings sollen alle ihre Urlaubstage nehmen. Das Leben im Allgemeinen und das Kulturleben im Besondern spielt sich weitgehend im Freien ab. Die Gastgärten sind voll. Das alles wird so nicht bleiben, schon alleine wegen der jahreszeitlichen Wetterwechsel. Den Sommer so leben, dass er auch noch den Winter wärmt, hat Albert Camus angeregt. Und die Maus Frederick, aus dem gleichnamigen Kinderbuch von Leo Lionni, sammelt Farben, Worte und Sonnenstrahlen statt Getreide für den Winter …

Wir berühren mit unserer Hand den Sommer, rufen „Leo“ und hoffen, möglichst lange zu bleiben.

Im Frühling war mein Leo ein Kastanienbaum auf einer Gstetten, im Sommer eine Installation von Anne Vaupel unter einer alten Eiche, immer ist das Blatt Papier eines.

Wir könnten uns alltagstaugliche, wetterfeste Zufluchtsorte schaffen und miteinander teilen!

Es leben die Lücken

Ist eine Lücke Leere oder Fülle?
Was mache ich mit einer Lücke?
Kann ich sie lassen oder muss ich sie füllen?
Feine Risse im Gefüge stellen das scheinbar Normale, Selbstverständliche in Frage.
Wie entstehen Risse?
Kann ich etwas dazu tun?
Wenn das Welt-, das Erdgeschehen aus den Fugen gerät, welche Schlupfwinkel brauchen wir?

Das Thema begleitet mich offenbar durch den Frühling. Breitet sich aus in mir. In der Baumühle ziehen mich die beiden Spalten in der weißen Wand an, die Löcher in den Steinen, die vielen Rillen, Ritzen und Spalten. Verbinden sich mit dem o.r.t-Thema von Anne: eine Reparatur der Welt.

Einladung zu kleinen Weltreparaturen

aus Ritzen wachsen
in Fugen Geheimnisse verstecken
in Spalten Träume säen
die Lücken ausloten
die Schlupflöcher suchen
in Ritzen mein Herz legen
in Fugen lauschen
der Lückenlosigkeit misstrauen
die Spalten pflegen
da und dort Risse anlegen
Schlupfwinkel schützen
Zwischenräume bewohnen

Klangstreifzüge – eine Einladung

Im März war es mir plötzlich zu still.  Ich wohne doch nicht mitten in der Stadt, um nur mehr die Vögel zwitschern zu hören! Mir fehlt das Knallen der Bälle gegen das Gitter des Fußballplatzes, die Klangkulisse spielender, lachender, schreiender, streitender Kinder im Kindergarten, auf dem Spielplatz. Die Gesprächsfetzen der Menschen im Park. Das Rattern der Züge in der Ferne. Plötzlich war der Ton abgedreht, oder zumindest sehr leise gestellt. Vor allem das Grundrauschen der Stadt fehlte.

In der stilleren Stadt intensivierte sich das Hören. 
Welchen Klang hat eine Stadt?
Was empfinden wir als Klang, was als Lärm?
Welche Klangmischungen sind angenehm?
Welche neuen Klänge, Geräusche, Töne tauchen auf?

In der Schäffergasse waren es Klaviersonaten von Schubert, Schuhmann, Beethoven, Chopin, aus einem Fenster im zweiten Stock, gespielt von der Pianistin Anna Kudlicki. Durch wogende Blätter, vom Wind getragen breiteten sich die Klavierklänge in die Gassen aus.  

An allen Ecken und Enden wurde in diesen Frühlingstagen auf Balkonen musiziert, an offenen Fenstern.

Musik ist Augenblicksglück und verbindet sich doch durch die Erinnerung mit Orten, klingt lange nach. Aus kleinen Fugen und Ritzen rund um die Pestsäule kommen manchmal die leisen Saxophonklänge von Lucia Westerguard. So wie im Lusthauswasser immer wieder Töne mit den Wellen rollen. 2017, bei Wien Modern, gab es rund um das Lusthauswasser Klanginstallationen im Gebüsch, die Musikerinnen sind teilweise im Wasser gestanden. Und in der Diehlgasse, in der Werkstatt gegenüber des Klangforum-Hauses klingt ab und zu Schlagwerk durch das geschlossene Tor …  Vor ein paar Jahren hat Björn Wilker dort Iannis Xenakis gespielt.

Rund um die Uhr – Klänge sind in der Tonspurenpassage im Museumsquartier zu hören, zu erleben. Seit 2003 präsentieren KlangkünstlerInnen ihre Arbeiten im öffentlichen Raum.

Wir sind alle sehr aufs Sehen fixiert, – wie wäre es, einmal los zu ziehen und zu hören? Wie klingt der Stadtpark, ein Innenhof, der Donaukanal, eine Kirche, die Mariahilferstraße, ein Kinderspielplatz, das Museumsquartier, der Viktor-Adler-Markt, eine U-Bahn-Station, der Praterstern, die Strudlhofstiege, ein Friedhof, … oder einfach ein Fenster aufmachen.

Fliege hinaus ins All.
Höre auf die Musik,
die die Erde macht.

Fliege hinaus ins All.
a) Höre auf die Musik,
die die Planeten machen.
b) höre auf die Musik,
die das Universum macht.

(Yoko Ono. Klangstück X)

Yoko Ono, Acorn, aus dem Englischen von Uljana Wolf, Haffmans & Tolkemitt, Berlin 2014

Aus der Stadt gefallen – eine Montage im März 2020

„In dem Augenblick aber, wo sie den Stich empfand, fiel sie auf das Bett nieder, das dort stand, und lag in einem tiefen Schlaf. Und dieser Schlaf verbreitete sich über das ganze Schloss. Der König und die Königin, die eben heimgekommen und in den Saal getreten waren, fingen an, einzuschlafen, und der ganze Hofstaat mit ihnen. Da schliefen auch die Pferde im Stall, die Hunde im Hof, die Tauben auf dem Dach, die Fliegen an der Wand, ja das Feuer auf dem Herd flackere, wurde still und schlief ein. Der Braten hörte auf zu brutzeln, der Koch, der den Küchenjungen, weil er etwas versehen hatte, an den Haaren ziehen wollte, ließ ihn los und schlief. Und der Wind legte sich, und auf den Bäumen vor dem Schloss regte sich kein Blättchen mehr.“

(Dornröschen, Brüder Grimm)

Dornröschenschlaf

Erstarrt die Geschäfte, Cafés, Bars, Restaurants, Kinos, Hotels, Würstelstände, Galerien, Büchereien, Universitäten, Werkstätten, Theater, Frisiersalons, Musiksäle, Nachtclubs, Copy-Shops, Änderungsschneidereien, … nicht durch einen Stich in den Finger, sondern durch eine Verordnung:

„Nur Geschäfte für Grundversorgung dürfen noch offenhalten“. Und weiter: „Verordnung des Gesundheitsministers gemäß § 2 Z 1 des Covid-19-Maßnahmengesetzes“ wird ausgesprochen: „Zur Verhinderung der Verbreitung von Covid-19 ist das Betreten öffentlicher Orte verboten.“

Die Espressomaschinen hören auf zu heizen, die Kuchenvitrinen zu kühlen, die Musik zu spielen. Die Gläser und Flaschen, die Frühlingskleidung, der Schmuck, die Bücher, die Handys, … all die Dinge unseres Lebens, die wir brauchen oder glauben zu brauchen, verstauben langsam in den Auslagen und Geschäften. Ein Prinz wird nicht kommen und uns erlösen …. der Kuss wird die Aufhebung einer Verordnung sein. Bleibt die Frage, ob dann alle wieder aufwachen können.

Füchse und Fische

Jemand hat einen Uhu im 1. Bezirk gesehen. Füchse schleichen durch die Gärten in den Randbezirken. „Wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, da sind auch Wölfe und Bären nicht weit.“ Das Sprichwort verweist auf menschenleere Einsamkeit – also das genaue Gegenteil von Stadt. Wächst die Dornröschenhecke langsam in die Stadt hinein? Auch die Künstlerin Maria Peters erzählt im Standard-Wohngespräch, dass sich die Tiere offenbar von Tag zu Tag wohler fühlen, die Vögel und die Marder den Park zurückerobern.

„Wie schön wäre Wien ohne Wiener. Der Stadtpark wär sicher viel grüner und die Donau endlich so blau“ singt Georg Kreisler. Dann gäbe es Bilder und Nachrichten von Delphinen in der Donau und klarem Wasser und Fischen im Donaukanal, so wie von Venedig und Triest. Sind aber angeblich ohnehin fake news. Ich brauche es nicht grüner und blauer, mir würde ein Steckerlfisch in der Hafenkneipe reichen ….

Leere

… „und die lauschigen Gassen wärn leer“ … Ob Georg Kreisler sich annähernd vorstellen konnte, dass leere Gassen und Straßen alles andere als lauschig sind?

Die stille, leere Stadt wirkt wie eine Kulisse, die auf das nächste Stück wartet.

Ich wohne doch nicht mitten in der Stadt, um nur mehr die Vögel zwitschern zu hören! Mir fehlt das Knallen der Bälle gegen das Gitter des Fußballplatzes, die Klangkulisse spielender, lachender, schreiender, streitender Kinder im Kindergarten, auf dem Spielplatz. Die Gesprächsfetzen der Menschen im Park. Das Rattern der Züge in der Ferne.

Die Künstlerin Maria Peters sprich davon, wie das Licht und die Soundkulisse vor ihrem Fenster ihr Leben rhythmisieren, „denn die Interaktion mit dem Sonnenverlauf und den Kindern im Innenhof und auf dem Spielplatz gibt mir Orientierung über Jahreszeit, Wochentag und Uhrzeit. … Jetzt ist alles anders. Die Kinderspielplätze sind still, die Straßen fast ausgestorben, und wenn ab und zu jemand durch die Gasse geht, erkennt man von hier oben eine gewisse Anspannung, durch die Ansteckungsgefahr, wie ich vermute. Die Zeit fühlt sich an wie ein ewiger Sonntag.“

Ich fühle mich nicht in der Wohnung eingesperrt, sondern aus der Stadt ausgesperrt. Was wahrscheinlich auf dasselbe hinausläuft. Und zum ersten Mal fühle ich mich unsicher in der Stadt. Einerseits durch die Verordnung und die Polizei – was darf ich, was darf ich nicht -, andererseits spät abends durch die menschleeren Straßen und geschlossenen Lokale.

In der Stadt nicht mehr zuhause sein, die Stadt nicht mehr bewohnen können/dürfen. Sozusagen aus der Stadt gefallen.

Michael Hausenblas schreibt im „Rondo“ über die Wiener Innenstadt, „die von einem mühsamen Wimmelbuch zu einer Geisterstadt wurde“.

Und ich ertappe mich schon bei unsinnigen Gelübden (und stelle mir die entsprechenden Votivbilder dazu vor): Nie mehr wieder werde ich mich über Menschenmassen aufregen, die Touristen auf den Mond oder sonst wohin wünschen. Nie mehr wieder werde ich den ersten Bezirk ein k&k Disneyland nennen … wenn nur das Leben wieder in die Stadt kommt, mit allen Facetten und Ambivalenzen.

Vereinzelung

„Zerstreuen sie sich. Halten sie Abstand von mindestens einem Meter“. Die Polizei fordert uns mit dem Megaphon dazu auf. Auf der Straße machen die Menschen einen großen Bogen umeinander, oft wird dabei ein verzweifelt-entschuldigendes Lächeln ausgetauscht. Manche tragen Schutzmasken, die verdecken jedes Lächeln. Wenn ich mich auf der Straße beobachte und die momentane Sinnhaftigkeit dieser Maßnahmen ausblende, komme ich mir völlig gestört vor. Und ich habe wirklich Sorge, was diese Angst voreinander mit uns allen macht.

Das Konzept Stadt ist nicht Vereinzelung. Stadt ist das, was unterschiedliche Menschen alleine und miteinander tun. Stadt ist Nähe und Austausch.

Rituale

Das tägliche 18-Uhr-Klatschen auf den Balkonen und an den offenen Fenstern für alle, die jetzt „das System erhalten“, wie es so schön heißt, wird zu Recht auch als zynisch empfunden, denn es braucht etwas ganz anderes: viel bessere Arbeitsbedingungen und Gehälter.

Allerdings brauchen wir alle dieses tägliche Ritual: ein gemeinsames in den Stadtraum treten. Etwas miteinander machen. Einander wahrnehmen, anschauen, zuwinken. Der Sehnsucht nach Begegnung folgen …  neue Räume finden.

Wie schön wäre Wien ohne Wiener
So schön wie a schlafende Frau!
Der Stadtpark wär sicher viel grüner
Und die Donau wär endlich so blau!

Wie schön wäre Wien ohne Wiener –
Ein Gewinn für den Fremdenverkehr!

Die Autos ständen stumm
Des Riesenrad fallet um

Und die lauschigen Gassen wärn leer
In Grinzing endlich Ruh

Und’s Burgtheater zu –
Es wär herrlich, wie schön Wien dann wär!

Keine Baustölln, keine Schrammeln
Und im Fernsehn kein Programm!

Nur die Vogerln und de Pferderln
Und de Hunderln und de Baam.

(Georg Kreisler)

Das Foto habe ich vor drei Jahren an einem Frühsommerabend in Alba, Piemont aufgenommen.

Brüder Grimm, Dornröschen
Wien ohne Wiener, Lied und Text Georg Kreisler, 1964
Wohngespräch, Wojciech Czaja mit Maria Peters, Der Standard, 21./22. März
Michael Hausenblas, Daheim ist das neue Fremde, Rondo 1064, 27. März 2020

Hafenkneipe, Donaukanal, bei der Franzensbrücke

barock bewegt

Wenn ich durch Städte flaniere, gehe ich üblicherweise in Kirchen. Vielleicht ein Kunsthistorikerinnen-Reflex, mehr aber die Sehnsucht nach Stille, nach Unterbrechung. Kirchen sind für mich Refugien. Dort bin ich ungestört, kann fraglos einfach da sein.

Die Barockkirchen lasse ich auf meinen Wegen allerdings weitgehend aus. Zu viel Prunk, zu viel Gold, zu viel Schein. Zu viel katholisch-kaiserliche Machtdemonstration, göttliche und weltliche Hierarchie, zu viel Gegenreformation und Jenseits-Vertröstungen.

Hätte ich vorher einen Reiseführer gelesen, wüsste ich, dass Bra eine kleine piemontesische Barockstadt mit vielen Kirchen ist. Die Kirchen habe ich durch ihre Türme schnell wahrgenommen, die Suche nach einer romanischen oder gotischen hätte ich mir ersparen können …

Allerdings hatte ich ohnehin nichts anderes zu tun als zu flanieren, zu schauen, zu entdecken, zu denken, zu träumen, zu erinnern, Espresso zu trinken, zu schreiben, zu lesen. Und in Kirchen zu sitzen.

Die erste Kirche hat mich noch ein wenig bedrückt, bis mir aufgefallen ist, dass gedrehte Marmorsäulen die Schwere aufheben. In der nächsten Kirche dachte ich, dass große Gesten immer auch große Emotionen ausdrücken, – nicht immer ist alles rational erklärbar. In Santa Chiara schließlich habe ich sicher eine Stunde verbracht.

Der Raum hat etwas sanft Schwingendes, etwas Helles, Heiteres. Täuschend echt gemalte Scheinarchitektur, Verschmelzung von Malerei, Plastik und Architektur, lichtdurchflutete Grenzaufhebungen. Bewegte Linien, die in Spiralen enden. Goldene Flügel heben die Schwerkraft auf. Überbordende Fülle und Sinnlichkeit. Beinahe körperlich erfahrene Raumbewegungen. Nach und nach fühle ich mich, als hätte ich mitten am Tag ein Glas Barolo auf leeren Magen getrunken …