Ungefähr genau

Mit meiner Freundin sitze ich im Cafe Weitzer. Ich erzähle von meinem Morgenespresso gegenüber der Franziskanerkirche, meine Blicke über die Mur hinweg, wie gerne ich diesen gotischen Kirchenraum mag, die Pauken schlagenden, trompetenden, Geigen spielenden Engel auf der Orgelempore. Meine Freundin spricht von der Uhr ohne Zeiger auf dem Turm und wie sie sich auf ihren Wegen daran freut. 

Ich sehe sie sofort vor mir, diese zeigerlose Uhr, ohne sie bewusst wahrgenommen zu haben. Zu wenig Gegenwart in meinem Blick auf diese Stadt voller Erinnerungen.

Später gehen wir über die Brücke auf die Uhr zu, ich fotografiere und denke an Patti Smith, ihren Text „Uhr ohne Zeiger“. Auch sie besessen von Kaffeehäusern. Oft aus der Zeit gefallene Orte, mit stehen gebliebenen Uhren an der Wand.

Wie kann ich diese Uhr ohne Zeiger nicht sofort lieben!? Das Fehlen der goldenen Zeiger und die daraus entstandene Unterbrechung der fortlaufenden Zeit versprechen ihren eigenen Glanz. Mehr Kairos als Chronos. Mehr Augenblicksglück als getaktete Zeit. 

Dem entsprechen auch meine beiden Armbanduhren.  Der Schriftzug „JETZT“ von Leo Zogmayer und Zeiger ohne Ziffernblatt auf einer weißen Fläche. Zeit nicht in Abschnitte, Striche und Zahlen unterteilt. Meine andere Uhr, eine alte Omega, ungefähr genau.


Wir lebten rund um die Uhr, nahmen die Tage und Nächte ohne große Rücksicht auf Zeit.
(Patti Smith)

Alltage, Orte, Worte. 26. Februar, Graz

Termine 2025

Schreibworkshops

Seiltanzen zwischen Orten und Worten – Stadterkundungen, 19. Mai 2025, Fortbildung PH Wien

Sommerschreibzeit, 26. bis 30. Mai 2025, GEA Akademie, Schrems

Papiergärten schreiben, 13. Juni 2025, Botanischer Garten, Wien

Walking Words – Gehen und Schreiben, 20. Juni 2025, BÖS – Berufsverband österreichischer Schreibpädagog:innen, 1120 Wien

Sprachkunst zwischen Text und Bild, 14. bis 16. Juli 2025, Styrian Summer Art, Pöllau

Papiergärten schreiben, 12. September 2025, Botanischer Garten, Wien

Urbane Textfelder, 27./28. September 2025, BÖS – Berufsverband österreichischer Schreibpädagog:innen, 1120 Wien

Wortschätze, 24. bis 26. Oktober 2025, GEA Akademie, Schrems

Ein Lebenskaleidoskop – Möglichkeiten des (auto)biografischen Schreibens, 5. bis 7. Dezember 2025, GEA Akademie Schrems

Ausstellungen (Beteiligungen)

Heimspiel – visuelle Poesie im BÖS, Frühlingsausstellung, Offenes Atelier, 1120 Wien, 15./16. Mai 2025

Mein Schreibtisch ist gedeckt für alle, Arbeit in Auslage zum 100. Geburtstag von Ernst Jandl, 1020 Wien, 22. Juni bis 31. August 2025

Operation Collage, Factory im Küntlerhaus, 11. bis 27. Juli 2025

Polyphonie, Kunstraum Arcade, Mödling, 6. September bis 11. Oktober 2025

Aus meinen (W)ORTE Fotonotizen,
eigene Fotos, Montagen mit Überschriften der Tageszeitung „Der Standard“.

Zu Gast auf der Alltagsbühne

„Die Mehrfachbelastung Welt 
ins Gras fallen lassen 
etwas für sich selbst machen

Häng ich so zwischen
zeichnen und gezeichnet werden
sehr viel und nichts
Eine Dunkelheit als Raststation
Warten auf das Unerhörte […]“

Die Kunst im Alltäglichen finden und das Besondere im scheinbar toten Winkel.
Das Schöne den Menschen näherbringen und die Menschen miteinander verbinden. Autorin sein. Und Mensch.

Aus dem Alltag begrüßt Brigitta Höpler.
„Boulevardverdichtungen“ wurde heute veröffentlicht.

Aus dem Alltag

Texte, zum Geschenk. Jeden Dienstag, jeden Freitag.
Weil nicht wertlos sein muss, was keinen Preis hat.

Boulevardverdichtungen – Aus dem Alltag

Dezemberrituale

Jeden Dezember gehe ich ins Kunsthistorische. Zu den Winterbildern der Niederländer. Das Valkenborchsche Schneegestöber war als Kind mein Lieblingsbild. Ich mag es immer noch. Die Winterlandschaften von Avercamp und Brueghel. Immer kaufe ich Karten dieser Winterbilder, setze mich ins Café in der Kuppelhalle und schreibe sie. Dieses Jahr nicht. Es ist dermaßen voll, Schlangen vor dem Café.

Beinahe sehnsüchtig denke ich an den Dezemberlockdown 2021. Ich war mit meiner Freundin, der Dichterin Hillary Keel im Museum. Ich für mein Dezemberritual, sie für Vermeer rund um ihr Schreibprojekt. Unabgesprochen haben wir beide darüber geschrieben.

Eine gewisse Leere
16. Dezember 2021, im Lockdown

Mit meiner Freundin Hillary im Kunsthistorischen Museum
Vermeers Licht trifft uns unerwartet neu
Wir vermissen manche Winterbilder
die Betrachtenden
den Kaffee in der Kuppelhalle
während die Sessel gestapelt auf Marmortischen
Wir vermessen die Leere
Sacherwürstel und Bier im Burggarten
der ausgelassene Teich wird gereinigt
Bauzäune um die Wiesen
ein älteres Paar geht seiner Wege Hand in Hand.

Ausschnitte aus dem Text A perfect world von Hillary Keel:

We miss Winter

Landscape by Avercamp

but then find Bruegel’s,

Hunters in the Snow,

and those skaters on

ponds, the bridges,

waterways all frozen,

she points out flames

coming from a cottage

chimney, a tiny detail,

alarmed figures stand by,

the meager amount of game

carried by the hunters,

the dogs are starving,

and a snowy scape

suddenly turns

sinister.

We sit on the sofa

in the center of

Wednesday afternoon

thinking of coffee

and then move

onward to the

next rectangular

gallery, paintings

lined one after

another, among

them to my left

The Art of Painting,

by Johannes Vermeer.

Eingeschriebenes, Aufgelesenes

Stadtstreunen, mit dem Rad, stundenlang.
Auflesen. Fotografieren. Notieren.
Das Textfeld Stadt bearbeiten. Stadtschriften sammeln.
Die Fotos ausdrucken, hin und her schieben.
Zu Bildgedichten, Kurzprosa, zu Feststellungen, Aufrufen, Anklagen.

Mehr poetisieren, als dokumentieren
Da und dort wohl auch romantisieren.
Und trotzdem: immer auch politisieren.

Dort, wo das Ich
als Verlängerung in die Welt hinein
eine Kunstform der Übersetzung

(aus den Boulevardverdichtungen)

Nahaufnahmen – ein bildnerisch-literarischer Dialog

30 Autorinnen schreiben zu 21 Kunstwerken von Künstlerinnen des Sprengel Museums. Eine Kooperation der Literaturzeitschrift Wortschau mit dem Sprengel Museum Hannover. Was für ein freudvolles, inspirierendes Projekt von Johanna Hansen, Mitherausgeberin der Wortschau. Was für eine gelungene Umsetzung in der Konzeption und Gestaltung im Wortschau Verlag.

Die Einladung war, bewusst eine literarische und keine kunsthistorische Perspektive einzunehmen. Eine Nahaufnahme zu wagen, mit einem geweiteten und zugleich vertieften Blick auf die Kunstwerke zu schauen. Sie poetisch in Worte zu übersetzen, nachzudichten.

Es geht um Sichtbarkeit, und auch um Künstlerinnensolidarität.

Ich freue mich sehr, mit einem Text zu dem Bild „Labrador“ von Pia Fries dabei zu sein. Ihr Bild ist auch auf dem Cover abgebildet.

Querbildein

Unter die Bildhaut kriechen
mit den Augenkuppen
durch Farblandschaften tasten
bis zum weißen Bildgrund,
Kreide auf Holz.

Schweigendes, farbloses Weiß
die Stille konzentrierter Momente,
bevor die Dinge ihren Ausdruck finden.

Die Farbe wie Lava,
eruptierend, strömend,
gebändigt, gepflügt,
gestaltet, geschichtet,
das wachsende Grün,
das wurzelnde Braun,
das zartende Rosa.

Handarbeiten
Landarbeiten
Bildarbeiten.

Zu bestellen beim Wortschau Verlag.

GENIA LOCI – eine Rezension, eine Begeisterung und die Liebe zum Ort

Genia Loci ist mehr als nur der Titel des Romans von Anton Philipp. Es gibt einige Protagonisten, etwa den jungen Historiker Nino, der mit der Transkription eines barocken Manuskriptes beschäftigt ist. Oder, in jenem Manuskript, ein Jesuitenpater, der von den Geschehnissen in der Alservorstadt im Mai des Jahres 1723 in Ich-Form erzählt. Doch die eigentliche Protagonistin ist eben die titelgebende Genia Loci, nicht nur in Gestalt der geheimnisvollen Paula sowie der Gräfin Zenobia.

Genius/Genia Loci, die besondere Atmosphäre eines Ortes, das Wesen eines Ortes, der Zauber, der von einem Ort ausgeht. Durch topographische und historische Besonderheiten, durch die Geschichten, die Menschen, die mit einem Ort verbunden sind. Die „zerstäubten Reste“ (S. 305) im Stadtgefüge – materielle und immaterielle Bestandeile fügen sich ineinander. Die entstehenden Fugen geben der Phantasie Raum.

 „Aber unsere Genia Loci ist eine wirkliche Schutzgöttin, die zwar irgendwie mit der Genia locale, der Bande des Grätzels, verbandelt ist, sonst aber vor allem Möglichen beschützt, den speziellen Flair oder das eigentümliche Wesen eines Ortes oder einer Gegend verkörpert.“ (S. 180)

Ich stelle mir vor, dass unsere Genia Loci immer wieder auf Trivia trifft, die Göttin des Dreiweges und Beschützerin der Wegkreuzungen. Auf die Frage, woher sie einander kennen, bekommt Nino immer wieder die gleiche Antwort in Paulas rätselhaften Freundeskreis, die Bande des Grätzels: „unsere Wege haben sich gekreuzt im Lauf der Jahre“. Kreuzungspunkte, die örtlich und zeitlich einen weiten Raum öffnen. Schwellen und Übergänge zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Vergangenen und Gegenwärtigen, zwischen Erträumten und Erlebten.

Was für ein Glück, einem Buch zu begegnen, das die eigene Herangehensweise an das Phänomen Stadt, ihr Gefüge, ihre Geschichte in romanhafter Form weitet und vertieft.

Die Stadt als Collage, als Montage – ein Prozess des Aufbauens, Zusammenfügens, Kombinierens, Verflechtens – aus unterschiedlichen Zeiten, Bedürfnissen, Sehnsüchten, Funktionen, aus Geträumtem, Geplantem und Gewachsenem. Die Stadt als Palimpsest, – der ursprüngliche Text immer wieder abgeschabt, abgewaschen und neu beschriftet. Der verborgene Subtext einer Stadt.

Hier setzt der Roman von Anton Philipp an, schon auf den ersten Seiten wird der Protagonist Nino mit seiner „Schwingungstheorie“ vorgestellt. „Alles einmal Geschehene würde Schwingungen im Äther hinterlassen und man müsste nur die Technologie erfinden, um diese wieder in Sichtbares umzuwandeln“. (S.11)

Der Roman besteht aus zwei Handlungsebenen, die in der Rossau/Alservorstadt/Lichtental spielen, „innig verflochten mit dem unsichtbaren Gewebe, mit der Geschichte dieser Vorstadt. (S. 339)

Zum einen das Manuskript aus der Barockzeit, dem jungen Historiker Nino von seinem Onkel übergeben, erzählt von einem Mord, den Vorstadtklüngeln rund um Claudius Innocentius du Paquier und den Anfängen des Wiener Porzellans, dubiosen Handel mit Schmuggelware für Naturalien-Sammler und ihre Kunstkammern. Zum anderen die Geschichte rund um diesen Text, seine Transkription, cyberkriminelle Machenschaften und Begegnungen im Herbst 2019.

Viele Erzählfäden sind miteinander verknüpft, dem lateinischen Wortursprung von Text folgend, texere, – verbinden, verweben, verknüpfen. Die Orte im 9. Bezirk, das Wiener Porzellan, die Kunst- und Wunderkammern zwischen Magie und Naturwissenschaft, die Arbeit an alten Texten, die Methoden der Textbearbeitung und der Sprachwissenschaft. So wie eine Hommage an Heimito von Doderers Roman „Die Strudlhofstiege“.

Was weitgehende literarische, historische und kunsthistorische Kenntnis erfordert, topografische Erkundungen, sorgfältige Recherchen und eine große Portion Topophilie (Ortsliebe, Ortsverbundenheit, ursprünglich von Gaston Bachelard für die Poetik des Raumes eingeführtes Konzept, das die persönliche Beziehung zu einem geliebten Ort bezeichnet).

Das Buch macht Lust, auf der Strudlhofstiege zu sitzen, die Liechtensteinstraße entlang zu flanieren, und die Porzellangasse zurück. Verborgene Bäche zu suchen, das blaue Einhorn und Paulas Garten. Alte Stadtpläne zu studieren, Tee aus Porzellantassen zu trinken und Toast mit Stachelbeermarmelade zu essen.

Anton Philipp, Genia Loci, Privatdruck, 2023
Für Buchbestellungen: philrevert@scheifling.cc

Kollektiv Seefrauen – das Manifest

Seefrauen lieben Zufälle. Zufälliges. Ihnen Zufallendes.
So geschehen auch mit Seebarn, einem Auftrittsort künftiger Seefrauen, wo zum zufällig entstandenen Seegarn glückliche Assoziationen kamen.
Seefrauen, Seegarn spinnend, Frauen sichtbar machend.
Später im Café Heumarkt, einem weiteren Auftrittsort, die Frage nach den See- oder Sehfrauen.
Das hatten sie nicht kommen sehen, es war ihnen zufällig ins Netz gegangen.

Spinnst du? Oh ja – immer wieder!

Wir sind in Teichen, Flüssen und Meeren geschwommen, schaumgeboren am Heumarkt, aufgezogen an der Wien, am Donaukanal, dem Donaufluss, an der Alten Donau,

sind gegen den Strom geschwommen und aus dem Netz der Meinungen ausgebrochen.

Wir garnen und zwirnen
legen Fäden in allen Farben
in Labyrinthe und wieder heraus
wider die zweifelhaften Heldenerzählungen

Wir knüpfen ein neues Netz miteinander, untereinander,
laden ein zum Vernetzen:

Seefrauen aller Meere! Schwimmt und vereinigt euch
zu neuen Möglichkeiten! Bildet Kollektive!

Sehfrauen, schaut über den Horizont, streckt die Hände aus
nach denen, die gegen das Untergehen kämpfen …

nach denen, die ihrer Unsichtbarkeit entrinnen, die sich zeigen wollen, gesehen werden sollen  die ihre Gedanken als Flaschenpost verschicken, die anknüpfen am Seefrauengarn, weiter weben wollen am Stoff, an dem Frauen-Generationen gewebt haben,

ihn sich neu zuschneiden, umschneidern, anpassen, anverwandeln, weiterwickeln und entwickeln, die assoziieren, montieren und monieren

Lasst euch umgarnen und verweben, vernetzen und verbinden

von

Brigitta Höpler, der Raumgeberin und Stadtverknüpferin

Beatrice Simonsen, der Kunst-Natur- und Literaturwirkerin

Karin Seidner, der Seelen- und See/Sehfrauenwerkerin

Seefrauen am Wienfluss, Mai und Oktober 2024
Seefrauengarn, 25 Jahre grauenfruppe, Oktober 2021

Stadtpalimpsest

Palimpsest, im Mittelalter eine beschriebene Manuskripseite, abgeschabt, gewaschen und immer wieder neu beschrieben. Reste der gelöschten Schichten bleiben zum Teil sichtbar, erahnbar.