Mit meiner Freundin sitze ich im Cafe Weitzer. Ich erzähle von meinem Morgenespresso gegenüber der Franziskanerkirche, meine Blicke über die Mur hinweg, wie gerne ich diesen gotischen Kirchenraum mag, die Pauken schlagenden, trompetenden, Geigen spielenden Engel auf der Orgelempore. Meine Freundin spricht von der Uhr ohne Zeiger auf dem Turm und wie sie sich auf ihren Wegen daran freut.
Ich sehe sie sofort vor mir, diese zeigerlose Uhr, ohne sie bewusst wahrgenommen zu haben. Zu wenig Gegenwart in meinem Blick auf diese Stadt voller Erinnerungen.
Später gehen wir über die Brücke auf die Uhr zu, ich fotografiere und denke an Patti Smith, ihren Text „Uhr ohne Zeiger“. Auch sie besessen von Kaffeehäusern. Oft aus der Zeit gefallene Orte, mit stehen gebliebenen Uhren an der Wand.
Wie kann ich diese Uhr ohne Zeiger nicht sofort lieben!? Das Fehlen der goldenen Zeiger und die daraus entstandene Unterbrechung der fortlaufenden Zeit versprechen ihren eigenen Glanz. Mehr Kairos als Chronos. Mehr Augenblicksglück als getaktete Zeit.
Dem entsprechen auch meine beiden Armbanduhren. Der Schriftzug „JETZT“ von Leo Zogmayer und Zeiger ohne Ziffernblatt auf einer weißen Fläche. Zeit nicht in Abschnitte, Striche und Zahlen unterteilt. Meine andere Uhr, eine alte Omega, ungefähr genau.
Wir lebten rund um die Uhr, nahmen die Tage und Nächte ohne große Rücksicht auf Zeit. (Patti Smith)
„Die Mehrfachbelastung Welt ins Gras fallen lassen etwas für sich selbst machen
Häng ich so zwischen zeichnen und gezeichnet werden sehr viel und nichts Eine Dunkelheit als Raststation Warten auf das Unerhörte […]“
Die Kunst im Alltäglichen finden und das Besondere im scheinbar toten Winkel. Das Schöne den Menschen näherbringen und die Menschen miteinander verbinden. Autorin sein. Und Mensch.
Aus dem Alltag begrüßt Brigitta Höpler. „Boulevardverdichtungen“ wurde heute veröffentlicht.
https://www.brigittahoepler.at/wp-content/uploads/2023/11/Brigitta-Hoepler-Logo-.png00Brigittahttps://www.brigittahoepler.at/wp-content/uploads/2023/11/Brigitta-Hoepler-Logo-.pngBrigitta2025-01-14 18:08:182025-01-14 18:13:32Zu Gast auf der Alltagsbühne
Jeden Dezember gehe ich ins Kunsthistorische. Zu den Winterbildern der Niederländer. Das Valkenborchsche Schneegestöber war als Kind mein Lieblingsbild. Ich mag es immer noch. Die Winterlandschaften von Avercamp und Brueghel. Immer kaufe ich Karten dieser Winterbilder, setze mich ins Café in der Kuppelhalle und schreibe sie. Dieses Jahr nicht. Es ist dermaßen voll, Schlangen vor dem Café.
Beinahe sehnsüchtig denke ich an den Dezemberlockdown 2021. Ich war mit meiner Freundin, der Dichterin Hillary Keel im Museum. Ich für mein Dezemberritual, sie für Vermeer rund um ihr Schreibprojekt. Unabgesprochen haben wir beide darüber geschrieben.
Eine gewisse Leere 16. Dezember 2021, im Lockdown
Mit meiner Freundin Hillary im Kunsthistorischen Museum Vermeers Licht trifft uns unerwartet neu Wir vermissen manche Winterbilder die Betrachtenden den Kaffee in der Kuppelhalle während die Sessel gestapelt auf Marmortischen Wir vermessen die Leere Sacherwürstel und Bier im Burggarten der ausgelassene Teich wird gereinigt Bauzäune um die Wiesen ein älteres Paar geht seiner Wege Hand in Hand.
Ausschnitte aus dem Text A perfect world von Hillary Keel:
Stadtstreunen, mit dem Rad, stundenlang. Auflesen. Fotografieren. Notieren. Das Textfeld Stadt bearbeiten. Stadtschriften sammeln. Die Fotos ausdrucken, hin und her schieben. Zu Bildgedichten, Kurzprosa, zu Feststellungen, Aufrufen, Anklagen.
Mehr poetisieren, als dokumentieren Da und dort wohl auch romantisieren. Und trotzdem: immer auch politisieren.
Dort, wo das Ich als Verlängerung in die Welt hinein eine Kunstform der Übersetzung
30 Autorinnen schreiben zu 21 Kunstwerken von Künstlerinnen des Sprengel Museums. Eine Kooperation der Literaturzeitschrift Wortschau mit dem Sprengel Museum Hannover. Was für ein freudvolles, inspirierendes Projekt von Johanna Hansen, Mitherausgeberin der Wortschau. Was für eine gelungene Umsetzung in der Konzeption und Gestaltung im Wortschau Verlag.
Die Einladung war, bewusst eine literarische und keine kunsthistorische Perspektive einzunehmen. Eine Nahaufnahme zu wagen, mit einem geweiteten und zugleich vertieften Blick auf die Kunstwerke zu schauen. Sie poetisch in Worte zu übersetzen, nachzudichten.
Es geht um Sichtbarkeit, und auch um Künstlerinnensolidarität.
Ich freue mich sehr, mit einem Text zu dem Bild „Labrador“ von Pia Fries dabei zu sein. Ihr Bild ist auch auf dem Cover abgebildet.
Querbildein
Unter die Bildhaut kriechen mit den Augenkuppen durch Farblandschaften tasten bis zum weißen Bildgrund, Kreide auf Holz.
Schweigendes, farbloses Weiß die Stille konzentrierter Momente, bevor die Dinge ihren Ausdruck finden.
Die Farbe wie Lava, eruptierend, strömend, gebändigt, gepflügt, gestaltet, geschichtet, das wachsende Grün, das wurzelnde Braun, das zartende Rosa.
Genia Loci ist mehr als nur der Titel des Romans von Anton Philipp. Es gibt einige Protagonisten, etwa den jungen Historiker Nino, der mit der Transkription eines barocken Manuskriptes beschäftigt ist. Oder, in jenem Manuskript, ein Jesuitenpater, der von den Geschehnissen in der Alservorstadt im Mai des Jahres 1723 in Ich-Form erzählt. Doch die eigentliche Protagonistin ist eben die titelgebende Genia Loci, nicht nur in Gestalt der geheimnisvollen Paula sowie der Gräfin Zenobia.
Genius/Genia Loci, die besondere Atmosphäre eines Ortes, das Wesen eines Ortes, der Zauber, der von einem Ort ausgeht. Durch topographische und historische Besonderheiten, durch die Geschichten, die Menschen, die mit einem Ort verbunden sind. Die „zerstäubten Reste“ (S. 305) im Stadtgefüge – materielle und immaterielle Bestandeile fügen sich ineinander. Die entstehenden Fugen geben der Phantasie Raum.
„Aber unsere Genia Loci ist eine wirkliche Schutzgöttin, die zwar irgendwie mit der Genia locale, der Bande des Grätzels, verbandelt ist, sonst aber vor allem Möglichen beschützt, den speziellen Flair oder das eigentümliche Wesen eines Ortes oder einer Gegend verkörpert.“ (S. 180)
Ich stelle mir vor, dass unsere Genia Loci immer wieder auf Trivia trifft, die Göttin des Dreiweges und Beschützerin der Wegkreuzungen. Auf die Frage, woher sie einander kennen, bekommt Nino immer wieder die gleiche Antwort in Paulas rätselhaften Freundeskreis, die Bande des Grätzels: „unsere Wege haben sich gekreuzt im Lauf der Jahre“. Kreuzungspunkte, die örtlich und zeitlich einen weiten Raum öffnen. Schwellen und Übergänge zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Vergangenen und Gegenwärtigen, zwischen Erträumten und Erlebten.
Was für ein Glück, einem Buch zu begegnen, das die eigene Herangehensweise an das Phänomen Stadt, ihr Gefüge, ihre Geschichte in romanhafter Form weitet und vertieft.
Die Stadt als Collage, als Montage – ein Prozess des Aufbauens, Zusammenfügens, Kombinierens, Verflechtens – aus unterschiedlichen Zeiten, Bedürfnissen, Sehnsüchten, Funktionen, aus Geträumtem, Geplantem und Gewachsenem. Die Stadt als Palimpsest, – der ursprüngliche Text immer wieder abgeschabt, abgewaschen und neu beschriftet. Der verborgene Subtext einer Stadt.
Hier setzt der Roman von Anton Philipp an, schon auf den ersten Seiten wird der Protagonist Nino mit seiner „Schwingungstheorie“ vorgestellt. „Alles einmal Geschehene würde Schwingungen im Äther hinterlassen und man müsste nur die Technologie erfinden, um diese wieder in Sichtbares umzuwandeln“. (S.11)
Der Roman besteht aus zwei Handlungsebenen, die in der Rossau/Alservorstadt/Lichtental spielen, „innig verflochten mit dem unsichtbaren Gewebe, mit der Geschichte dieser Vorstadt. (S. 339)
Zum einen das Manuskript aus der Barockzeit, dem jungen Historiker Nino von seinem Onkel übergeben, erzählt von einem Mord, den Vorstadtklüngeln rund um Claudius Innocentius du Paquier und den Anfängen des Wiener Porzellans, dubiosen Handel mit Schmuggelware für Naturalien-Sammler und ihre Kunstkammern. Zum anderen die Geschichte rund um diesen Text, seine Transkription, cyberkriminelle Machenschaften und Begegnungen im Herbst 2019.
Viele Erzählfäden sind miteinander verknüpft, dem lateinischen Wortursprung von Text folgend, texere, – verbinden, verweben, verknüpfen. Die Orte im 9. Bezirk, das Wiener Porzellan, die Kunst- und Wunderkammern zwischen Magie und Naturwissenschaft, die Arbeit an alten Texten, die Methoden der Textbearbeitung und der Sprachwissenschaft. So wie eine Hommage an Heimito von Doderers Roman „Die Strudlhofstiege“.
Was weitgehende literarische, historische und kunsthistorische Kenntnis erfordert, topografische Erkundungen, sorgfältige Recherchen und eine große Portion Topophilie (Ortsliebe, Ortsverbundenheit, ursprünglich von Gaston Bachelard für die Poetik des Raumes eingeführtes Konzept, das die persönliche Beziehung zu einem geliebten Ort bezeichnet).
Das Buch macht Lust, auf der Strudlhofstiege zu sitzen, die Liechtensteinstraße entlang zu flanieren, und die Porzellangasse zurück. Verborgene Bäche zu suchen, das blaue Einhorn und Paulas Garten. Alte Stadtpläne zu studieren, Tee aus Porzellantassen zu trinken und Toast mit Stachelbeermarmelade zu essen.
Anton Philipp, Genia Loci, Privatdruck, 2023 Für Buchbestellungen: philrevert@scheifling.cc
https://www.brigittahoepler.at/wp-content/uploads/2023/11/Brigitta-Hoepler-Logo-.png00Brigittahttps://www.brigittahoepler.at/wp-content/uploads/2023/11/Brigitta-Hoepler-Logo-.pngBrigitta2024-10-14 20:20:562024-10-14 20:25:12GENIA LOCI – eine Rezension, eine Begeisterung und die Liebe zum Ort
Seefrauen lieben Zufälle. Zufälliges. Ihnen Zufallendes. So geschehen auch mit Seebarn, einem Auftrittsort künftiger Seefrauen, wo zum zufällig entstandenen Seegarn glückliche Assoziationen kamen. Seefrauen, Seegarn spinnend, Frauen sichtbar machend. Später im Café Heumarkt, einem weiteren Auftrittsort, die Frage nach den See- oder Sehfrauen. Das hatten sie nicht kommen sehen, es war ihnen zufällig ins Netz gegangen.
Spinnst du? Oh ja – immer wieder!
Wir sind in Teichen, Flüssen und Meeren geschwommen, schaumgeboren am Heumarkt, aufgezogen an der Wien, am Donaukanal, dem Donaufluss, an der Alten Donau,
sind gegen den Strom geschwommen und aus dem Netz der Meinungen ausgebrochen.
Wir garnen und zwirnen legen Fäden in allen Farben in Labyrinthe und wieder heraus wider die zweifelhaften Heldenerzählungen
Wir knüpfen ein neues Netz miteinander, untereinander, laden ein zum Vernetzen:
Seefrauen aller Meere! Schwimmt und vereinigt euch zu neuen Möglichkeiten! Bildet Kollektive!
Sehfrauen, schaut über den Horizont, streckt die Hände aus nach denen, die gegen das Untergehen kämpfen …
nach denen, die ihrer Unsichtbarkeit entrinnen, die sich zeigen wollen, gesehen werden sollen die ihre Gedanken als Flaschenpost verschicken, die anknüpfen am Seefrauengarn, weiter weben wollen am Stoff, an dem Frauen-Generationen gewebt haben,
ihn sich neu zuschneiden, umschneidern, anpassen, anverwandeln, weiterwickeln und entwickeln, die assoziieren, montieren und monieren
Lasst euch umgarnen und verweben, vernetzen und verbinden
von
Brigitta Höpler, der Raumgeberin und Stadtverknüpferin
Beatrice Simonsen, der Kunst-Natur- und Literaturwirkerin
Karin Seidner, der Seelen- und See/Sehfrauenwerkerin
Palimpsest, im Mittelalter eine beschriebene Manuskripseite, abgeschabt, gewaschen und immer wieder neu beschrieben. Reste der gelöschten Schichten bleiben zum Teil sichtbar, erahnbar.