Nahaufnahmen – ein bildnerisch-literarischer Dialog

30 Autorinnen schreiben zu 21 Kunstwerken von Künstlerinnen des Sprengel Museums. Eine Kooperation der Literaturzeitschrift Wortschau mit dem Sprengel Museum Hannover. Was für ein freudvolles, inspirierendes Projekt von Johanna Hansen, Mitherausgeberin der Wortschau. Was für eine gelungene Umsetzung in der Konzeption und Gestaltung im Wortschau Verlag.

Die Einladung war, bewusst eine literarische und keine kunsthistorische Perspektive einzunehmen. Eine Nahaufnahme zu wagen, mit einem geweiteten und zugleich vertieften Blick auf die Kunstwerke zu schauen. Sie poetisch in Worte zu übersetzen, nachzudichten.

Es geht um Sichtbarkeit, und auch um Künstlerinnensolidarität.

Ich freue mich sehr, mit einem Text zu dem Bild „Labrador“ von Pia Fries dabei zu sein. Ihr Bild ist auch auf dem Cover abgebildet.

Querbildein

Unter die Bildhaut kriechen
mit den Augenkuppen
durch Farblandschaften tasten
bis zum weißen Bildgrund,
Kreide auf Holz.

Schweigendes, farbloses Weiß
die Stille konzentrierter Momente,
bevor die Dinge ihren Ausdruck finden.

Die Farbe wie Lava,
eruptierend, strömend,
gebändigt, gepflügt,
gestaltet, geschichtet,
das wachsende Grün,
das wurzelnde Braun,
das zartende Rosa.

Handarbeiten
Landarbeiten
Bildarbeiten.

Zu bestellen beim Wortschau Verlag.

GENIA LOCI – eine Rezension, eine Begeisterung und die Liebe zum Ort

Genia Loci ist mehr als nur der Titel des Romans von Anton Philipp. Es gibt einige Protagonisten, etwa den jungen Historiker Nino, der mit der Transkription eines barocken Manuskriptes beschäftigt ist. Oder, in jenem Manuskript, ein Jesuitenpater, der von den Geschehnissen in der Alservorstadt im Mai des Jahres 1723 in Ich-Form erzählt. Doch die eigentliche Protagonistin ist eben die titelgebende Genia Loci, nicht nur in Gestalt der geheimnisvollen Paula sowie der Gräfin Zenobia.

Genius/Genia Loci, die besondere Atmosphäre eines Ortes, das Wesen eines Ortes, der Zauber, der von einem Ort ausgeht. Durch topographische und historische Besonderheiten, durch die Geschichten, die Menschen, die mit einem Ort verbunden sind. Die „zerstäubten Reste“ (S. 305) im Stadtgefüge – materielle und immaterielle Bestandeile fügen sich ineinander. Die entstehenden Fugen geben der Phantasie Raum.

 „Aber unsere Genia Loci ist eine wirkliche Schutzgöttin, die zwar irgendwie mit der Genia locale, der Bande des Grätzels, verbandelt ist, sonst aber vor allem Möglichen beschützt, den speziellen Flair oder das eigentümliche Wesen eines Ortes oder einer Gegend verkörpert.“ (S. 180)

Ich stelle mir vor, dass unsere Genia Loci immer wieder auf Trivia trifft, die Göttin des Dreiweges und Beschützerin der Wegkreuzungen. Auf die Frage, woher sie einander kennen, bekommt Nino immer wieder die gleiche Antwort in Paulas rätselhaften Freundeskreis, die Bande des Grätzels: „unsere Wege haben sich gekreuzt im Lauf der Jahre“. Kreuzungspunkte, die örtlich und zeitlich einen weiten Raum öffnen. Schwellen und Übergänge zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Vergangenen und Gegenwärtigen, zwischen Erträumten und Erlebten.

Was für ein Glück, einem Buch zu begegnen, das die eigene Herangehensweise an das Phänomen Stadt, ihr Gefüge, ihre Geschichte in romanhafter Form weitet und vertieft.

Die Stadt als Collage, als Montage – ein Prozess des Aufbauens, Zusammenfügens, Kombinierens, Verflechtens – aus unterschiedlichen Zeiten, Bedürfnissen, Sehnsüchten, Funktionen, aus Geträumtem, Geplantem und Gewachsenem. Die Stadt als Palimpsest, – der ursprüngliche Text immer wieder abgeschabt, abgewaschen und neu beschriftet. Der verborgene Subtext einer Stadt.

Hier setzt der Roman von Anton Philipp an, schon auf den ersten Seiten wird der Protagonist Nino mit seiner „Schwingungstheorie“ vorgestellt. „Alles einmal Geschehene würde Schwingungen im Äther hinterlassen und man müsste nur die Technologie erfinden, um diese wieder in Sichtbares umzuwandeln“. (S.11)

Der Roman besteht aus zwei Handlungsebenen, die in der Rossau/Alservorstadt/Lichtental spielen, „innig verflochten mit dem unsichtbaren Gewebe, mit der Geschichte dieser Vorstadt. (S. 339)

Zum einen das Manuskript aus der Barockzeit, dem jungen Historiker Nino von seinem Onkel übergeben, erzählt von einem Mord, den Vorstadtklüngeln rund um Claudius Innocentius du Paquier und den Anfängen des Wiener Porzellans, dubiosen Handel mit Schmuggelware für Naturalien-Sammler und ihre Kunstkammern. Zum anderen die Geschichte rund um diesen Text, seine Transkription, cyberkriminelle Machenschaften und Begegnungen im Herbst 2019.

Viele Erzählfäden sind miteinander verknüpft, dem lateinischen Wortursprung von Text folgend, texere, – verbinden, verweben, verknüpfen. Die Orte im 9. Bezirk, das Wiener Porzellan, die Kunst- und Wunderkammern zwischen Magie und Naturwissenschaft, die Arbeit an alten Texten, die Methoden der Textbearbeitung und der Sprachwissenschaft. So wie eine Hommage an Heimito von Doderers Roman „Die Strudlhofstiege“.

Was weitgehende literarische, historische und kunsthistorische Kenntnis erfordert, topografische Erkundungen, sorgfältige Recherchen und eine große Portion Topophilie (Ortsliebe, Ortsverbundenheit, ursprünglich von Gaston Bachelard für die Poetik des Raumes eingeführtes Konzept, das die persönliche Beziehung zu einem geliebten Ort bezeichnet).

Das Buch macht Lust, auf der Strudlhofstiege zu sitzen, die Liechtensteinstraße entlang zu flanieren, und die Porzellangasse zurück. Verborgene Bäche zu suchen, das blaue Einhorn und Paulas Garten. Alte Stadtpläne zu studieren, Tee aus Porzellantassen zu trinken und Toast mit Stachelbeermarmelade zu essen.

Anton Philipp, Genia Loci, Privatdruck, 2023
Für Buchbestellungen: philrevert@scheifling.cc

Kollektiv Seefrauen – das Manifest

Seefrauen lieben Zufälle. Zufälliges. Ihnen Zufallendes.
So geschehen auch mit Seebarn, einem Auftrittsort künftiger Seefrauen, wo zum zufällig entstandenen Seegarn glückliche Assoziationen kamen.
Seefrauen, Seegarn spinnend, Frauen sichtbar machend.
Später im Café Heumarkt, einem weiteren Auftrittsort, die Frage nach den See- oder Sehfrauen.
Das hatten sie nicht kommen sehen, es war ihnen zufällig ins Netz gegangen.

Spinnst du? Oh ja – immer wieder!

Wir sind in Teichen, Flüssen und Meeren geschwommen, schaumgeboren am Heumarkt, aufgezogen an der Wien, am Donaukanal, dem Donaufluss, an der Alten Donau,

sind gegen den Strom geschwommen und aus dem Netz der Meinungen ausgebrochen.

Wir garnen und zwirnen
legen Fäden in allen Farben
in Labyrinthe und wieder heraus
wider die zweifelhaften Heldenerzählungen

Wir knüpfen ein neues Netz miteinander, untereinander,
laden ein zum Vernetzen:

Seefrauen aller Meere! Schwimmt und vereinigt euch
zu neuen Möglichkeiten! Bildet Kollektive!

Sehfrauen, schaut über den Horizont, streckt die Hände aus
nach denen, die gegen das Untergehen kämpfen …

nach denen, die ihrer Unsichtbarkeit entrinnen, die sich zeigen wollen, gesehen werden sollen  die ihre Gedanken als Flaschenpost verschicken, die anknüpfen am Seefrauengarn, weiter weben wollen am Stoff, an dem Frauen-Generationen gewebt haben,

ihn sich neu zuschneiden, umschneidern, anpassen, anverwandeln, weiterwickeln und entwickeln, die assoziieren, montieren und monieren

Lasst euch umgarnen und verweben, vernetzen und verbinden

von

Brigitta Höpler, der Raumgeberin und Stadtverknüpferin

Beatrice Simonsen, der Kunst-Natur- und Literaturwirkerin

Karin Seidner, der Seelen- und See/Sehfrauenwerkerin

Seefrauen am Wienfluss, Mai und Oktober 2024
Seefrauengarn, 25 Jahre grauenfruppe, Oktober 2021

MUTTER – ein Ausstellungsprojekt von Anne Vaupel

„Eine Mutter haben, keine Mutter (mehr) haben, eine Mutter sein, keine Mutter sein, sich wie eine Mutter fühlen, eine Mutter erträumen, eine Mutter vermissen.“

Das Thema „Mutter“ ist ein weites Feld, ein Feld voller Projektionen.

In der Mitte des Lebens verändert sich das eigene Mutter- oder Kind-sein noch einmal sehr. Dieser Prozess war der Anlass für eine Einladung an Kolleginnen und Kollegen, die eigene Situation zu reflektieren und daraus ein gemeinsames Ausstellungsprojekt zu machen.

MUTTER zeigt 25 künstlerische Positionen. Die Arbeiten kreisen um die eigene Mutter und fremde Mütter, um das eigene Muttersein, aber auch um die Idee einer „Mutter-Erde“ – sie reflektieren gute und schlechte Beziehungen, Liebe und Konflikt, Geheimnisse und Wahrheiten.

Die Probebühne in der Rentzelstraße wird zum ersten Mal zum Ausstellungsort und gibt Raum für Malerei, Fotografie, Zeichnung, Installation und Performance.

Ich freue mich sehr, mit meinem Bildgedicht aus Stadtschriften und einer Postkarte „Entlang der Milchstrasse oder von einer, die los zog, das Kümmern zu verlernen“ dabei zu sein.

smart

Aktuelle Termine im Herbst

Ausstellungen

27. September bis 3. Oktober 2024, mutter – ein Ausstellungsprojekt, Lichthof Hamburg

Lesungen

15. Oktober 2024, Seefrauen am Wienfluss. Performativer Spaziergang und Lesung.

1. Dezember 2024, Werkstatt Babsi Daum, Boulevardverdichtungen.

Seminare

Im Rahmen von Volle Blüte – Literarische Spaziergänge im Botanischen Garten, Schreibworkshop Blattentfaltungen – manche Worte fliegen aufs Papier, andere wachsen leise. Am Freitag, 11. Oktober 2024 von 15.30 bis 17.30.

Lustvoll ins Schreiben hineinkommen, die Eigensprache finden: Wortschätze an der GEA Akademie, 18. bis 20. Oktober 2024.

Stadtpalimpsest

Palimpsest, im Mittelalter eine beschriebene Manuskripseite, abgeschabt, gewaschen und immer wieder neu beschrieben. Reste der gelöschten Schichten bleiben zum Teil sichtbar, erahnbar.

Der Brennessel, Hillary und ich

Im Juli 2016 haben Hillary Keel (18. Juli 1959 bis 27. Oktober 2022) und ich mit anderen am Sommerworkshop des BÖS teilgenommen. Geleitet hat ihn Sophie Reyer, geschrieben haben wir rund um die Almhütte von Gertrude Moser-Wagner. Wir haben den ganzen Tag geschrieben, frühabends waren wir im Fischteich schwimmen, spätabends haben wir im Frühstücksraum unserer Unterkunft Murauer getrunken, Hirschwurst gegessen und geredet, als hätten wir untertags noch nicht genug Worte gesucht, gefunden und ausgetauscht.

Hillary und ich haben, unabhängig voneinander, über die Brennessel geschrieben.
Da kannten wir beide das Lied Brennesseln von Buntspecht noch nicht „und alle wollen Rosen, wollen Tulpen frisch gepflückt, aber am herrlichsten sind Brennessel, nackt an die Brust gedrückt“.

Hillary und ich wollten noch etwas machen mit unseren Texten, mit den Brennesseln. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Nach 8 Jahren habe ich jetzt unsere Texte zu einem verwoben.

Hier wuchs einmal Brennessel,
eine Menge Brennessel,
der die Scheune,
die einmal hier stand,
überwuchs.

der Brennessel
die Brennessel
der Brennessel
die Brennessel

sie ist
er war
sie sind

Der Brennessel als Schutz,
als Zeichen der Wildnis,
der Ungefplegtheit,
der Überwucherung.

Der nicht aufzuhaltende Brennessel war hier.

Der Brennessel,
der einmal hier gedieh,
der die Menschen,
die einmal hier weilten,
irritierte, brannte
und wucherte dann so aus,
dass die Menschen ihn
zu respektieren lernten.

Es entstand in ihnen eine gewisse Ehrfurcht.
Dann pflegten sie das nicht zu pflegende,
das Ungepflogene pflogen sie.

sie wachsen und blühen
sie brennen und jucken
sie schützen und bergen
sie heilen und klären
sie färben und düngen
sie wirken und wuchern

die Brennessel
der Brennessel  

Die Salonage

Der Salon ist männlich, die Salonage weiblich.

Salonage klingt nach Bagage.
Nach lustvollem Feiern, Zusammenhalten und Ausprobieren.

Klingt nach Montage und Collage.
Die Dinge durcheinander bringen und neu zusammensetzen.
Die Realität, die Möglichkeiten, Träume, Wünsche und Notwendigkeiten kunterbunt vermischen.
Das Fragmentarische schätzen und pflegen.
Die Lücken lieben, die Risse aushalten.

Zwischenräume und Experimente vom Glück.
So etwas wie ein Leo, ein Raum wo wir nicht „abgeschlagen“ werden können.

Meine viele Jahre lang gefeierten Frauenabende am 8. März spielen mit hinein. Wir haben im geschützten Raum kleine private Lesungen, Ausstellungen, Konzerte ausprobiert, mit viel Verbundenheit, Solidarität und Ermutigung.  

Der Hagebuttenhimmel der Künstlerin Erika Kronabitter spielt mit hinein, entstanden aus der idee, in einem kleinen privaten raum fast in der baumkrone einer linde und eines kastanienbaumes kleine präsentationsräume zu schaffen für autorInnen, musikerInnen, video- und andere künstlerInnen mit der idee, in fünfminuten-vorträgen kunst und literatur zu präsentieren und anderen (nichtkünstlerInnen) vorzustellen, diese zu vernetzen. Dies alles beim gemeinsamen essen, trinken und plaudern und der freude, sich vielleicht wieder zu treffen

In Berlin hat die Autorin Isobel Markus im Literaturhaus Lettrétage das Format der Berliner Salonage geschaffen. Unabhängig voneinander haben wir den Begriff „Salonage“ kreiert, sie aus der Lettrétage, ich aus der Montage/Collage.

In Dénia, Spanien, betreibt die Autorin Daniela Gerlach einen Salon, la ñ, ein Kulturzimmer in der Tradition der europäischen Salons. Hier finden Ausstellungen, Lesungen, Vorträge, Mini-Performance, Musik und Aktionen statt.
Wir haben einander rund um das Café Entropy kennengelernt, Daniela hat im Frühling ein Wochenende in der Salonage gewohnt,

Lasst uns viele solche Räume schaffen und vernetzen!
Lasst uns einander Leo sein!

Bisherige Salonagen:

31. August 2021. Ich sehe den Bäumen die Stürme an. Sonja Knoll liest aus ihrem Buch „Es gibt nur deinen Weg“ und zeigt Collagen.

9. September 2022. Echo. Recherchen, Prozesse, Geschichten von Anja Stejskal und Brigitta Höpler.

24. November 2022. Von Mondhasen und anderen Geistern. Lesung von Johanna Hansen und Ulrike Schrimpf. Farbige Drucke auf Aquarellpapier von Johanna Hansen.

25. April 2023. Vom geziegelten Terassenheft in die Filmrolle. Lesung Katharina Ingrid Godler aus dem Gedichtband „Die Filmstadt am Rande der Kindheit“.

13. November 2023. Die Karten auf den Tisch legen. Arbeiten von Michaela Gebert-Lange.

13. Juni 2024. Sehnsucht nach Menschlichkeit. Fotografien von Michael Heiss, Texte von Brigitta Höpler.

Brach liegen

Mein Gedicht „Brach liegen“ ist heute Gedicht des Tages in der Poesiegalerie. Für die Reihe Boulevardverdichtungen verdichte ich jeweils eine Nummer der Boulevardzeitung AUGUSTIN auf ein paar Zeilen.