Stadtlücken, Geheimnisse
Mein Text „Im Leo sein“ vom 6. August zieht seine Kreise. Die Künstlerin Elisabeth Slavkoff hat Teile davon ins Flämische übersetzt, für ihre Familie, zur Geburt von Leo.
Petra Kohlenprath schreibt mir, dass der Text im Loibltal, Brodi 1 hängt. Dem Familienhaus der Kohlenpraths, erbaut von den Urgroßeltern 1896. Seit 2015 ist das Haus Erzähl,- Erinnerungs,- Ausstellungs- und Möglichkeitsraum. In diesem Jahr „Das Gedächtnis des Ortes/Kraj in njegow spomin – Ein Vergegenwärtigungsprojekt“ als Teil der Kärtner Landesausstellung.
„Der Raum, den du mir mit deiner Leo Geschichte geschenkt hat, ist wie Medizin für mich. Dort kann ganz vielen heilen. Und das Beste ist, er ist, seit ich ihn kenne immer bei mir. Öfter sollte ich ihn betreten als ich es tue. Ich verinnerliche ihn mir aber immer mehr“, schreibt mir Petra.Was für eine Ehre und Freude, – mein Text an diesem besonderen Ort!
In verlassenen Gebäuden tut sich zwischen dem Nichtmehr und dem Nochnicht ein Raum auf, für alles Mögliche. Zwischen der Leere und der Fülle. Entlang der Spuren wachsen Geschichten und Träume. Stadtlücken. Zwischenräume. Leos.
Kunst in einer Alt-Simmeringer Hofanlage, mit Werkstätten, einer Selcherei, Garagen, Wohnräumen. Vor dem Abriss konnte die „Haus Wien“ nach einem Open Call für ein paar Tage im September Kunst zeigen. Ortsbezogen und quer hinein, berührend, inspirierend, vergnüglich. Eine selten gelungene Ausstellung.
Nach der Ausstellung flaniere ich weiter in Simmering herum, entlang einer Sehnsucht nach Stadtlücken, nach Zwischenräumen, vielleicht auch nach dem „geheimen Garten“. Ein grünes Gartentor ist einen Spalt offen, ich gehe in den verwilderten Garten hinein. Auf dem Gartentisch ein Plastiktischtuch, darauf eine Milchkanne und eine Gartenschere. Die Milchkanne zieht mich an. Obwohl ich Milch überhaupt nicht mag. Nicht den Geruch, nicht den Geschmack, nicht die Haut an der Oberfläche. Aber die Milchkanne speichert Erinnerungen. Sie hat etwas Schützendes, Geborgenes.
In den nächsten Tagen trage ich dieses Haus, diesen Garten, diesen Ort mit mir herum. Denke mir Geschichten aus. Komme wieder. Trinke Tee im Garten und mache Fotos.
„Als wir Kinder waren, fanden wir uns geheime Orte. Sie wechselten mit unseren Umzügen, mussten neu gefunden und erobert werden, mit den Jahren wurde unser Wohnraum zwar Stück für Stück größer, aber die Enge blieb die gleiche. Favorit in der Geschichte unserer Fluchten war und blieb das Hausdach. … Wenn unsere Eltern arbeiteten und wir ein Zeitfenster lang allein waren … schlichen wir uns hinaus und kletterten Hoch ins Dachgeschoss, ich besaß einen Schlüssel, den ich vom Bund des Hausmeisters gestohlen hatte“.
Wie ich das bei Sandra Gugic lese, sehe ich mich sofort in der Prinz Eugenstraße mit dem Lift in den 7. Stock fahren, dann über die Leiter aufs Dach klettern. Zwischen den Schornsteinen die Stadt unter mir. Alleine und glücklich. Ich bin ganz sicher, dass nicht nur Kinder geheime Orte und kleine Fluchten brauchen!
Gestern, bei Freunden im Garten, erzähle ich von meinen Simmering Streifzügen und Entdeckungen, von meiner Liebe zur Gstettn. Michael erzählt, dass sein Vater, der Architekt Ernst Heiss oft darüber gesprochen und geschrieben hat, dass eine Stadt Geheimnisse braucht. Heute schickt er mir die entsprechenden Zitate.
„Zu einem Siedlungsgebiet, dass den Namen Stadt verdient, gehört, dass ein Grundstock an weitgehend unberührten, geheimnisvollen Räumen – quasi als Rückzugsbereich der Seele – erhalten bleibt. … Mehr und mehr verschwinden die „Freiräume“ in den Häusern, jene nicht eindeutig definierten „Überschussräume“ in Keller und Dachboden. Räume, die (verbotenerweise) vom Spiel der Kinder erobert wurden. Abenteuerwelten.“
Zu einer „kleinen Reparatur der Welt“ braucht es die Lücken, die Risse, die Spalten, die Fugen, die Zwischenräume. Die toten Winkel. „Rückzugsbereiche für die Seele“, Leos. Mein Herumstreifen in der Stadt ist eine ständige Suche nach solchen Orten!
Frances Hodgson Burnett, Der geheime Garten, 1911
Sandra Gugic, Zorn und Stille, Hoffmann und Campe, Hamburg 2020
Ernst W. Heiss, Städtebau con amore. Hrsg. von Karl Glotter und Christian Heiss. Wien 1997
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!